Aus der "iL-giornale Nr. 2": Wir waren über 16.000 auf der Großdemonstration der Seebrücke in Hamburg am 2. September. Ein riesiger Erfolg, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Ganz einfache Forderungen haben so viele Leute auf die Straße gebracht: Seenotrettung darf nicht behindert und kriminalisiert werden.
Niemand soll im Mittelmeer ertrinken. Es muss sichere Fluchtwege geben. Und, noch einmal verstärkt nach den Vorfällen von Chemnitz: Nein zum Hass, zum Rassismus, zur Verrohung der Sprache. Nein zur AfD, Nein zu Salvini und Seehofer.
Aber ist dieses Eintreten für die Selbstverständlichkeiten der Demokratie, der Humanität und der Menschenrechte wirklich eine Aufgabe für die radikale Linke, zu der ja auch wir als IL zählen? Können wir das nicht den Kirchen überlassen, den liberalen Bürger_innen, vielleicht noch der Linkspartei? Sind wir nicht diejenigen, die mehr wollen und fordern müssen? Wo ist der Antikapitalismus? Die Vision einer anderen Welt, frei von Ausbeutung, Unterdrückung und Rassismus?
Ja, es war ein sehr breites Bündnis und ein noch breiteres Spektrum von Menschen, die da in Orange gegen Rechts und gegen das Sterben im Mittelmeer demonstriert haben. Die Kirchen waren dabei, Bischöfin Kirsten Fehrs hat eine (gute) Rede gehalten, selbst der schwerfällige DGB hat aufgerufen. Abgeordnete und Anhänger_innen der Grünen und der SPD haben teilgenommen, also der tragenden Parteien eines Senats, der gnadenlos abschieben lässt und bislang zu der politisch gewollten Tragödie im Mittelmeer schweigt.
Aber ebenso richtig ist leider, dass es die Seebrücke-Aktionen in Hamburg und in vielen anderen Städten nicht oder zumindest nicht so gegeben hätte, wenn Bewegungslinke nicht die Initiative ergriffen hätten. In Hamburg waren wir es, die die erste Demonstration Mitte Juli auf die Beine gestellt hatten. Das bietet gleichzeitig die Chance, die neue Bewegung nicht in hilflose Appelle und unpolitische Beschwörungen des gemeinsamen guten Willens abgleiten zu lassen. Für Hamburg bedeutet das: Zuspitzung auf die Handlungsmöglichkeiten des Senats und des Ersten Bürgermeisters Peter Tschentscher, die sich so gern hinter der Zuständigkeit von Bundesregierung und EU verstecken möchten.
Hamburg zum sicheren Hafen: Das heißt nicht nur verbale Unterstützung für die Seenotretter_innen, sondern auch offensive Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten und in der Konsequenz eine Delegitimierung der herrschenden Politik von Abschottung, Entrechtung und Abschiebung.
Der offensichtliche und schreiende Widerspruch zwischen den unmittelbar einsichtigen, „nur“ humanitären Forderungen und der politischen Realität ist es, der aus der Seebrücke eine potentiell radikale Bewegung macht. Bei den Seenotretter_innen und Aktivist_innen in Orange sind schon etliche von allein zu der Erkenntnis vorgestoßen, dass die größte Fluchtursache, die es abzustellen gilt, der globale Kapitalismus ist.
„Die Wahrheit ist immer konkret“, wusste schon Lenin. In diesem Fall ist die Wahrheit, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung – und zwar weder in ihrer nationalen noch in ihrer internationalen Variante – in der Lage ist, ihre einst selbst aufgestellten Grundsätze der Menschenrechte einzuhalten. Die Entscheidung ist daher: Glauben wir an die Ideologie der Sachzwänge und der angeblichen Belastungsgrenzen von Gesellschaften und Sozialsystemen, während für die Rettung von Banken oder die Kriegsrüstung jede beliebige Summe mobilisiert wird? Oder entscheiden wir uns dafür, dass die Rechte der Menschen – und das heißt immer aller Menschen – Vorrang haben?
Entscheidend wird sein, dass die Seebrücke keine kurzfristige Erscheinung bleibt, sondern Kontinuität gewinnt. Wenn es gelingt, dabei den Charakter einer unabhängigen Bewegung zu verteidigen, in der die Aktivist_innen selbstermächtigt und eigenverantwortlich handeln und ihre Hoffnungen nicht an Stellvertreter_innen delegieren, dann kann Orange die Farbe der Abwehr des Rechtsrucks und der Wiedergewinnung linker Perspektiven sein.
Christoph, aktiv in der AG Antira/Migration