Wie kam es zu eurer Kampagne?
Ursprünglich kamen wir aus der damals noch fast nicht existenten Klimabewegung. Wir wollten den Klimawandel bekämpfen und dessen Ursache, die kapitalistische Gesellschafts- bzw. Wirtschaftsordnung. Gleichzeitig fanden wir das sehr abstrakt. Es war die Zeit, in der das Thema in aller Munde war, es aber häufig bei kraftlosen Appellen und moralisierenden Verzichtsdebatten blieb. Wir suchten einen konkreten politischen Ansatz zu finden, der erstens konkret Verursacher und Interessen benennt, also eine einseitig an den Interessen der Autolobby ausgerichtete Verkehrspolitik geißelt. Zweitens war es uns wichtig, die Klima- oder Umweltpolitik mit der sozialen Frage zu verknüpfen und den Zusammenhang zwischen Geldbeutel und Mobilität zu thematisieren. Wer weniger Kohle hat, gesundheitliche Einschränkungen oder kein Auto fahren will oder darf, ist auf einen geschmeidigen ÖPNV angewiesen. Im Laufe der Zeit ist als drittes Anliegen der Komplex „Stadt und Verkehr“ wichtiger geworden. Also Lärm, Unfallgefahren, Stadtplanung. Der Platz, den der Autoverkehr wegnimmt, könnte anders genutzt werden, zum Beispiel für Spielplätze und Grünflächen. Wir wollten eine radikale, aber auch vorstellbare und realistische Forderung aufstellen. Wir haben dann nach einer ersten kollektiven Umsonstfahraktion zu einer Aktionskonferenz eingeladen, und im Anschluss hat sich das Bündnis gebildet.
Was ist denn euer kleinster gemeinsamer strategischer Nenner?
Im Kern geht es uns darum, dass viele Leute vom Auto auf den ÖPNV umsteigen. Dafür muss dieser nicht nur frei verfügbar sein, sondern auch öfter fahren und weiter ausgebaut werden. Das wird nicht von heute auf morgen gehen; andere Städte wie Jena, Tübingen oder Bremen werden da bestimmt flotter sein. Die Bundesregierung hatte 2017 vorgeschlagen, einen kostenlosen ÖPNV in einigen Modellstädten einzuführen, um eine EU-Strafe bzw. Fahrverbote abzuwenden, ist damit aber an der Weigerung der Städte gescheitert, die verkehrspolitisch andere Schwerpunkte setzen wollten. Dennoch wurde der Geist aus der Flasche gelassen, seit letztem Jahr hat die Debatte ziemlich an Fahrt aufgenommen!
Kommen wir zu eurer neuen Forderung. Ihr heißt ja „HVV Umsonst!“ und nicht „HVV kostengünstig!“. Warum habt ihr eine Online-Petition gestartet, in der ihr für das sogenannte Wiener Modell werbt, also ein Jahresabo für 365 Euro?
Das „umsonst“ in unserem Namen greift eine Parole aus den Kämpfen gegen Privatisierung, für eine Ausweitung gesellschaftlicher Teilhabe auf: „Alles für alle und zwar umsonst“. Natürlich ruft das immer diesen Widerspruch in der bürgerlichen Umgebung hervor: „Ja, wer soll das denn bezahlen? Anstrengungsloser Wohlstand, das geht ja wohl nicht.“ Solche Vorstellungen, dass, wer nicht über bestimmte Geldmittel verfügt, sich mit einer eingeschränkten Mobilität zufrieden geben muss, wollen wir aufbrechen. Wir sagen: „Nö, bestimmte Rechte hat jede*r: Bildung, Gesundheit, und eben auch Mobilität.“ Deshalb hatten wir uns anfangs bewusst gegen die Forderung nach einem Sozialticket entschieden. Leider haben wir es bislang aber nicht aus einem Nischendasein heraus geschafft. Jedes Jahr steigen die Ticketpreise über dem Bundesdurchschnitt. Was uns gelang, war das sogenannte Agenda Setting. Die Piraten haben unsere Forderung sehr früh übernommen, später auch die Grüne Jugend und in abgespeckter Variante auch die Linkspartei.Wir haben aber feststellen müssen, dass unsere provokante Umsonst-Forderung häufig die diskursive Tür eher schließt als sie zu öffnen. Wir haben deshalb einen strategischen Neustart unternommen. Die Online-Petition ist wichtig, um Leuten ein Mitmachangebot zu unterbreiten, die wir sonst kaum erreichen könnten. Da sehen wir schon großen Zuspruch, mit bald 10.000 Unterstützer*innen. Das „Wiener Modell“ mit einem Euro am Tag erscheint vielen leichter vorstellbar. Die Stadt ist mit Hamburg vergleichbar, und vor allem funktioniert es da bereits. Es erleichtert natürlich ungemein, wenn man die ganzen ideologischen Anfeindungen mit einem Verweis auf bestehende Erfahrungen abräumen kann. Trotzdem soll es nur ein Zwischenschritt sein, deshalb bleiben wir unserem Namen treu. Und aktuell sehen wir bereits einen ersten strategischen Erfolg: Schon zwei Mal ist unsere Forderung von Mitgliedern auf einem SPD-Landesparteitag als Antrag eingebracht worden, letztes Mal nach mehrstündiger Debatte nur sehr knapp gescheitert. Als Kompromiss wurde immerhin ein 1-Euro-Ticket für Azubis und Schüler*innen ins Wahlprogramm aufgenommen. Die CDU – auch nicht so dumm – konterte mit dem Wahlversprechen, allen, die ihren Diesel endgültig abmelden, ein 365-Euro-Jahresticket zu ermöglichen. All das ist zwar noch weit von einem radikalen Kurswechsel entfernt, aber es sind Tippelschritte in die richtige Richtung, die es ohne unsere viel beachtete Petition kaum gegeben hätte…
Welche Bedeutung hat die Frage nach der Finanzierung?
Eine immense Bedeutung! Da stießen wir immer wieder drauf, was ja auch logisch ist angesichts der Omnipräsenz „leerer öffentlicher Kassen“, Schuldenbremse usw. Da ist es immer leicht, Forderungen nach Steigerung der öffentlichen Ausgaben als unrealistisch abzutun. Zunächst reichte es uns plump dagegenzuhalten, dass doch genug Geld vorhanden sei, zum Beispiel für die Elbphilharmonie. Dennoch hilft das nicht immer weiter, dann nicken die Menschen, die sowieso schon auf unserer Seite sind, und der Rest denkt sich, schöne Idee, aber funktioniert nicht.
Dem Wiener Modell liegt ein Umlageverfahren zugrunde. Es bleibt also eine Nutzerfinanzierung, was viele gerecht finden. Besser finden wir aber eine öffentliche Finanzierung zu 100 Prozent, also Mobilität in der Stadt als öffentliches Gut wie z.B. Bildung zu denken. So betreibt es die estnische Hauptstadt Tallinn. Erstens entfallen so die Kontrollen, und zweitens sollen die Autofahrer*innen den ÖPNV mitfinanzieren, das ist ein Gebot der ökologischen, sozialen und Generationengerechtigkeit.
Es gibt Leute, für die ist „HVV Umsonst“ Zwangsrealität. Die müssen immer „umsonst“ fahren. Wie steht ihr zum Fahren ohne Ticket?
Für uns ist das kein moralisches Problem. Es gab die Kontroll-Warnungs-App und etliche Facebook- und Whatsapp-Gruppen. Wir finden das alles legitim und es verweist ja auch auf die Notwendigkeit, sich gegen Kriminalisierungsversuche zur Wehr zu setzen. Trotzdem ist unsere Parole „Ticketfrei für alle!“, denn es sollen alle entspannt ohne Fahrschein durch die Gegend rollen können, nicht nur ein paar Bedürftige oder Mutige. Wir haben aber auch selbst versucht, die Kampagne praktisch umzusetzen. Es gab bevorzugt am 1. Mai schon drei Mal angekündigte, kollektive Umsonstfahrten. Das war immer ein geiles Gefühl, und kam auch in der Presse gut rüber. Als abschließende Info für alle iL-Giornale-Leser*innen bleibt zu sagen: Der Kampf geht weiter.
PS: Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe von »iL Giornale«, der Zeitung der Interventionistischen Linken Hamburg erschienen. Die Ausgabe mit Schwerpunkt feministische Kämpfe findest Du im Schanzenbuchladen, im Infoladen Wilhelmsburg , im Centro Sociale und Veranstaltunge der Il Hamburg