Infoveranstaltung mit Blick auf die Hamburger Perspektive
Der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München geht nach 5 Jahren zu Ende. Doch niemand rechnet damit, dass dadurch eine umfassende Aufklärung der komplexen Hintergründe und Verflechtungen der NSU-Mordtaten mit bundesweiten Naziszenen und staatlichen Geheimdiensten erfolgen wird. Zu viele Fragen, die die Familien der Mordopfer umtreiben, hat das Gericht blockiert.
Im Rahmen der Nebenklageplädoyers haben die Familienangehörigen selbst das Wort ergriffen und ihr Resümee aus den vergangenen 5 Jahren gezogen. Gamze Kubaşık, die Tochter von Mehmet Kubaşık, klagte in ihrem Plädoyer: „Ich weiß immer noch nicht, warum ausgerechnet mein Vater ausgewählt wurde. Ich weiß immer noch nicht, wer noch beteiligt war. Ich verstehe nicht, warum diese Menschen nicht gestoppt wurden.“ An die Bundesanwaltschaft gerichtet äußerte sie ihre Skepsis mit den Worten: „Ich glaube nicht, dass Sie noch jemanden anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen.“ Ayşe Yozgat, die Mutter von Halit Yozgat, erklärte an den Vorsitzenden des Gerichts gerichtet: „Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert. Es gibt kein Ergebnis.“ Ebenfalls an den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl gerichtet sagte Abdulkerim Şimşek, der Sohn von Enver Şimşek: „Ich möchte, dass alle, die an der Ermordung meines Vaters schuld sind, in höchstem Maße bestraft werden.“ Michalina Boulgarides, die Tochter von Theo Boulgarides kritisierte, dass trotz klarer Namen und Fakten, die die Nebenklagevertreter genannt haben, ihre Erwartung nicht erfüllt wurde: „Vom Prozess hätte ich erwartet, dass man den Beweisanträgen stattgibt. Wenigstens das ist man uns schuldig. Ich hatte gehofft, die Wahrheit zu erfahren. Dass alle Angeklagten aussagen und Reue zeigen.“
Ihre Mutter, Yvonne Boulgarides, resümiert den Prozess mit den Worten: „All die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche haben uns mit noch mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen.“ Tülin Özüdoğru, die Tochter von Abdurrahim Özüdoğru stellt fest: „Es ist ein Schatten auf Deutschland gefallen“. Sie kritisierte die deutschen Behörden, deren Aufgabe es sei, diesen Schatten wegzuwischen, Sie hätten aber zu wenig getan. Dennoch bleib sie optimistisch: „Früher oder später fliegt alles auf“. Das Prozessende in München bedeutet wie für viele andere auch für Yvonne Boulgarides nicht das Ende der Aufklärungsbemühungen: „Ich weiß, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Eines aber können wir tun: nicht aufhören zu fragen. Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen“..
Die Familienangehörigen der NSU-Opfer hatten von Anfang an einen rassistischen Hintergrund vermutet und dies den Ermittler_innen mitgeteilt, doch weder die Ermittler_innen noch die Medien hatten diesen Verdacht ernstgenommen. Stattdessen mussten die Hinterbliebenen jahrelang die rassistische Opfer-Täter-Umkehrungspraxis der Ermittler ertragen. Soweit bisher bekannt, hat der NSU von 1999 bis 2010 zehn Menschen ermordet und drei Sprengstoffanschläge verübt.
Am 27. Juni 2001 ermordete der NSU in Hamburg-Bahrenfeld Süleyman Taşköprü. Nach Bekanntwerden des NSU im November 2011 sprach der Hamburger Innensenator Michael Neumann im Mai 2012 von der Notwendigkeit einer „rückhaltlosen Aufklärung“ des Mordes an Süleyman Taşköprü, aber paradoxerweise hat die Bürgerschaft 2015 einen Antrag auf einen NSU-Untersuchungsausschuss abgelehnt.
Bisher bleibt der NSU-Komplex – die Beteiligung des Verfassungsschutzes, die Mittäterschaft lokaler Neonazis, die Leugnung eines rassistischen Hintergrundes des Mordes von Polizei und Staatsanwaltschaft und ihre rassistische Ermittlungspraxis unaufgeklärt.
Welche Erkenntnisse hat der NSU-Prozess in München über die Anklage hinaus gebracht? Warum wird am Ende des Prozesses nicht über alle Täter_innen und Unterstützer_innen geurteilt? Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss in Hamburg ist nach wie vor aktuell. Die wichtigsten Fragen zum NSU-Komplex in Bezug auf Hamburg sind unbeantwortet: etwa die nach den Hintergründen des Mordes oder der Identität der Helfershelfer_innen aus der Stadt Hamburg. Welche Rolle und Aufgabe hatte die Hamburger Neonazi-Szene im NSU-Komplex und beim Mord an Süleyman Taşköprü? Welche Rolle spielte die Neonaziszene um Worch und Wulff, die intensive Kontakte zum engen Umfeld des NSU pflegten? Wie lassen sich die Gründe für das Totalversagen der Sicherheitsbehörden erklären? Welche geheimdienstlichen Ermittlungen unternahm der Hamburger Verfassungsschutz mit welchen Ergebnissen in Bezug auf den NSU und die Hamburger Neonaziszene? Warum unterließen Polizei und Staatsanwaltschaft bis 2011 die Verfolgung eines rassistischen Tatmotives? Warum stellten sich die Sicherheitsbehörden nicht einmal die Frage nach einem rassistischen Hintergrund des Mordes?
Im Rahmen einer Info- und Diskussionsveranstaltung am 27. Mai 2018 um 18:00 Uhr im Centro Sociale wollen wir gemeinsam mit den Podiumsteilnehmer_innen den NSU-Prozess in München mit einer Hamburger Perspektive aufgreifen und gemeinsam über die vielen offenen Fragen diskutieren.
Eingeladen sind:
Gül Pınar, eine der Nebenklageanwältinnen der Familie Taşköprü
Christiane Schneider, Fraktion DIE LINKE
İbrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln im November 1992
Osman Taşköprü, Bruder von Süleyman Taşköprü (angefragt)